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Über die Bedeutung erfahrungsbezogenen Lernens

Von Jörg Kleis

Die Idee ist nicht neu: Das Auseinandersetzen mit unterschiedlichen akademischen Bedingungen, sozialen Kulturen und Wirtschaftssystemen dient dem Zweck der Entwicklung besonderer Einsichten und Fähigkeiten, wie man sie sonst nicht oder zumindest nicht im gleichen Maße bekäme. Dazu zählen insbesondere Offenheit und die Gelegenheit zur Entdeckung der Welt und ihrer Möglichkeiten und Unterschiede. Die Theorie besagt gar, dass “Exposure”, also das “Ausgesetztsein” dabei hilft, das Mitgenommene zu Hause zu verbreiten, also Einfluss zu nehmen, indem die Altstipendiaten oder Alumni ihr Umfeld über kulturelle Unterschiede aufklärt. Ist da etwas dran?

Einsichten von Elsie Mugure aus Kenia

Im Rahmen des Deutsch-Afrikanischen Universitätsprojekts für Studenten der Universität Nairobi in Kenia und der Universität Cape Coast in Ghana reiste Elsie Mugure für drei Monate an die Hochschule Bonn-Rhein-Sieg. Ebenso reisten Bonner Studenten nach West- und Ostafrika. Hierüber veröffentlichte sie einen Betrag, der mich persönlich zum Nachdenken gebracht hat.

„Das soziale Leben in Deutschland, in erster Linie die sozialen Systeme in Deutschland, sind ausgezeichnet. Ich kann mich kaum an einen Tag bei der Ausländerbehörde oder beim Sozialamt erinnern, an dem ich für meine meine Aufenthaltsgenehmigung oder meinen Versicherungsantrag länger als fünf Minuten warten musste. Alles wird nach Absprache erledigt und wenn man mal zu spät kommt, dann hat man Pech gehabt, weil man dann einen neuen Termin buchen muss. Zeitmanagement ist in Deutschland der Schlüssel zum Erfolg, jede Sekunde zählt. Anders als in der kenianischen Kultur, in der Zeit eine kontextbezogene Bedeutung hat, ist Zeitmanagement in Deutschland streng einzuhalten. Ich hatte in dem Zusammenhang einen kleinen Kulturschock. Als ich mit meinem kenianischen Studienkollegen nach der Landung in Frankfurt am Flughafenbahnhof ankam, hielten wir nach unserem Zug nach Bonn Ausschau. Auf unserem Zugticket stand eine bestimmte Zeit, und zwar 09:38 Uhr. Aus unserer kenianischen Perspektive konnten wir uns beim besten Willen nicht vorstellen und auch nicht nachvollziehen, warum die Abfahrtszeit des Zuges nicht auf 09:45 Uhr festgelegt war. Wir waren tatsächlich der Meinung, dass der Zug nicht um 09:38 Uhr abfahren würde, dass es sich bei dieser Uhrzeit um einen Fehler handeln musste und dass er er mindestens zehn Minuten nach der angegebenen Zeit abfährt, wie es bei unserem Busverkehrssystem in Kenia üblich ist. Es war ein Schock für uns, als der Zug genau um 09:38 Uhr ausfuhr und wir ihm am Bahnsteig hinterherschauten. Wir mussten auf den warten. “

Die Kategorien sind lauten nicht “richtig oder falsch“, sondern vielmehr „gleich, ähnlich oder unterschiedlich“

Es muss hier festgehalten werden, dass solche Aussagen für Europäer in Afrika und Afrikaner in Europa gleichermaßen gelten können und zugegebenermaßen vermag gerade das Thema “Zeit” für den ein oder anderen Leser gewisse Klischees bedienen. Hier geht es jedoch nicht um Frage von Stereotypen oder der vermeintlichen Dominanz der einen Seite über die andere. Was hier zählt – dies ist meine Interpretation von Elsies Aussage – ist, dass ihre Beobachtung die Konsequenz kontextuellen und erfahrungsorientierten Lernens ist. Ihre Erkenntnis zeigt, dass und wie es ganz und gar an der erlebenden und Erfahrung sammelnden Person liegt, ihre eigenen Schlussfolgerungen aus diesen Erfahrungen abzuleiten, denn es sind ihre eigenen und ganz persönlichen Erfahrungen. Die Kategorien in einem solchen Kontext lauten nicht mehr „richtig oder falsch“, sondern „gleich, ähnlich, unterschiedlich, relativ oder vergleichbar“. Außerdem sagt Elsie:

„Die Deutschen halten sich immer an die Regeln. Selbst wenn es in ihrem eigenen Ermessen liegt, ob sie die Regeln befolgen wollen oder nicht, entscheiden sie sich immer noch dafür. Auf der anderen Seite sind die Deutschen weniger sozial. Sie nehmen sich viel Zeit, um Vertrauen zu Fremden aufzubauen. Es kann ein ganzes Semester dauern, bis ein deutscher Fremder zu dir kommt und dich begrüßt. Früher dachte ich, die Deutschen seien schüchtern. Selbst wenn sie unter sich sind, bevorzugt jeder seine eigene private Sphäre. Man ist also nicht gleich miteinander befreundet, nur weil man im selben Kurs sitzt. Die Deutschen wissen ganz gut, wie man Grenzen zieht. Sobald man sich aber mit einigen angefreundet hat, stellt man fest, dass es sich um höfliche und aufrichtige Menschen handelt, die einem alles so sagen werden, wie es ist.“

Der Einfluss der Exposition liegt darin, dass Erfahrungen erlebt und verarbeitet werden und später nach ihnen zu handeln.

Der Grund, warum ich mich dazu entschlossen habe, diese Passage aus Elsies Bericht zu zitieren, ist, dass eine wertvolle Beobachtung oder vielmehr Art der Beobachtung enthält. Denn er fördert das Reflektieren beider Seiten über sich selbst und übereinander, also des Subjekts und des Objekts der Erzählung, des Absenders und des Empfängers der Nachricht. Dies wiederum ist stets die Voraussetzung für Zusammenarbeit und gemeinsamen Austausch, die wir alle wollen. Der Beitrag enthält also konkretes Feedback, das unweigerlich bestimmte Gedanken in Gang bringt: „Welchen Eindruck hinterlasse ich, hinterlassen wir als ‘Deutsche’?“ „Wie sieht mich die andere Person?“ „Wie unterscheidet sich meine Sozialisierung von ihrer?“ Offensichtlich handelt es sich um pauschale Beobachtungen. Natürlich hält sich nicht jeder Deutsche an die Regeln. Um die Verallgemeinerung ihrer Äußerungen geht es hier aber nicht, sondern vielmehr darum, dass sich solche in einem Beitrag öffentlich geäußerte Beobachtungen auf künftige Begegnungen auswirken. Elsie fährt dementsprechend fort:

„Es hat mich dazu angeregt, verschiedene Kulturen zu akzeptieren, wertzuschätzen und anzunehmen. Es brachte mich dazu, Ideen zu sammeln, wie ich viele Bereiche in unserem Land (Kenia), zum Beispiel die Universität verbessern kann. Es hat mir auch beigebracht, meine eigene Komfortzonen zu verlassen. Deutschland hat mir gezeigt, dass es gelingen kann, hart zu arbeiten, ehrlich zu sein und Systeme zu entwickeln, die funktionieren. Deutschland hat mir aber auch dabei geholfen, meine kenianische Kultur und Gesellschaft wertzuschätzen. Denn unsere Wärme und Herzlichkeit bleibt weltweit ungeschlagen.”

Globales Denken ist zu einer unschätzbaren Fähigkeit geworden

Wir sehen vor Allem bei den internationalen Stipendiaten und Studenten, die wir in Deutschland coachen, dass globales Denken immer mehr zu einer unverzichtbaren Fähigkeit auf dem Arbeitsmarkt wird. Eine noch größere Rolle spielt jedoch, dass globales Denken eine unverzichtbare Fähigkeit in einer immer komplexer werdenden und komplizierten Welt darstellt, die manchmal aus den Fugen zu geraten scheint. Denn wir befinden uns in einer Zeit, in der die die großen Themen unserer Zeit – Globalisierung, Digitalisierung, Migration und Klimawandel – eine Gemeinsamkeit haben. Sie kennen keine Grenzen und kümmern sich nicht darum, wer “Inländer” oder “Ausländer” ist.

Was meine ich mit “globalem Denken”, einem Begriff, der freilich konturenlos anmutet und der stärkeren Konkretisierung bedarf, als es hier möglich ist. Umfasst sind hiervon gleich mehrere “Soft Skills”, einschließlich der Fähigkeit zu reflektieren, Dinge aus verschiedenen Blickwinkeln zu sehen, auszuprobieren, innovativ zu sein, vielleicht sogar mehr zu wagen, Dinge aktiv zu hinterfragen, eine Haltung einzunehmen und zu verteidigen, kritisch zu sein, vielleicht sogar nach eigenen Maßstäben eine bessere Person zu werden, da der Vergleichsmaßstab durch die internationale Erfahrung schlussendlich ein anderer geworden ist. Das Einzigartige bleibt, dass globales Denken Fähigkeiten umfasst, die nicht im Unterricht oder durch Lektüre vermittelt werden können – es muss erlebt werden. Doch worüber wird bei alledem noch nicht gesprochen? Wie man das System für Nicht-Akademiker, Berufsschüler und Auszubildende öffnen kann.

Dieser Artikel basiert auf einem Beitrag von Elsie Mugure, der unter dem Titel “Case Study: Experiential Learning Through Student Exchange Program” in: Brautlacht, Agyapong, Owino (Eds.), Handbook of Applied Teaching and Learning, pp. 103-106 at German African University Partnership Platform for the Development of Entrepreneurs and Small/Medium Enterprises veröffentlicht wurde.

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