Magazin

Deutschlands langer Weg zur Immigration Nation

von Jörg Kleis

„Warum ist es so schwer, einen Termin bei der Botschaft für meinen Visaantrag zu bekommen? Warum wird stets bekräftigt, die deutsche Bevölkerung altere und benötige qualifizierte Nachwuchskräfte, während die Rechtslage die alte bleibt? Warum spricht bei der Ausländerbehörde niemand Englisch und warum behandeln sie dich wie einen Bürger zweiter Klasse? Warum lockt man ausländische Studierende nach Deutschland, bietet Hochschulabschlüsse auf Englisch an und teilt nicht von Vornherein mit, wie schwierig die Jobsuche ohne Deutschkenntnisse ist? Wie werde ich jemals eine Stelle bekommen, wenn deutsche Bewerber stets bevorzugt werden?“

Die Wahrheit zuerst: Deutschland ist kein Einwanderungsland. Korrektur, Deutschland ist noch kein Einwanderungsland. Als ausländischer Student, Absolvent oder jemand mit Berufserfahrung, der in Deutschland einen Job sucht, kann das keine zufriedenstellende Aussage sein. Aber sie macht die Dinge hoffentlich klarer.

Deutschland ist nicht mehr dasselbe Land wie vor sechszig Jahren

Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat Deutschland große Migrationsbewegungen erlebt: Kriegsflüchtlinge und Umsiedlungen nach 1945; Rekrutierung von Gastarbeitern, hauptsächlich in den 1960er Jahren aus Italien, Griechenland und der Türkei bis zu einem abrupten Verbot im Jahre 1973 angesichts der Ölkrise; die Vereinigung und Integration der DDR nach 1990; die Integration der europäischen Arbeitsmärkte, einschließlich der Osterweiterung der EU Mitte der 2000er Jahre; und zuletzt die sogenannte europäische „Flüchtlingskrise“ im Jahr 2015, die bis heute nachwirkt.

Deutschland ist nicht mehr dasselbe Land wie vor sechzig, dreißig und damit auch vor fünf Jahren. Die Kuriosität dabei ist, dass der De-facto- Status Deutschlands als Einwanderungsland von der deutschen Gesellschaft, also von einem großen Teil der Bevölkerung, bis heute nicht voll akzeptiert wird. Der Hauptgrund dafür ist, dass die Bundesregierung über Jahrzehnte hinweg nicht zur Kommunikation dieser Botschaft bereit war.

Der Widerspruch ist, dass wir de facto ein Einwanderungsland sind

Forscher, die die westdeutschen Erfahrungen mit Einwanderung ausgewertet haben, stellten fest, dass Deutschland seit Anfang der 1950er Jahre ein Einwanderungsland ist. Bereinigt um die Bevölkerungsgröße stellten sie fest, dass der Zustrom zu Beginn des letzten Jahrhunderts mit dem der Vereinigten Staaten vergleichbar war, als die Zuwanderung dort ihren Höhepunkt erreichte.

Dennoch will Deutschland bis heute kein Einwanderungsland sein. Erkennbar ist dies an der mangelhaften Rechtslage, an der Nichtbeachtung der Probleme einer alternden Gesellschaft sowie der langfristigen Bedürfnisse von Zuwanderern niederschlägt. Gleichzeitig wurden von den Medien Gerüchte über Sozialschmarotzertum und die Zunahme von Straftaten durch Zugewanderte unterstützt und von rechten Politikern ausgenutzt.

Die Gründe sind komplex, denn Deutschland ist nicht Deutschland. Es ist ein vielfältiges und manchmal paradoxes System von über 80 Millionen Menschen mit unterschiedlichen Ansichten, Bildungsniveaus und Biografien. Man könnte ja behaupten, dies sei ein perfekter Nährboden für ein Einwanderungsland mit einer progressiven Einwanderungskultur. Was jedoch stets fehlte, ist der notwendigerweise lange und intensiv geführter öffentlicher Diskurs. Man hielt sich zurück und ein Stück weit mag es tatsächlich eng mit der hierzulande geführten Debatte über die „deutsche Identität“ verbunden sein, was auch immer sie sein mag. Ich verwende gerne das Wort “Wachstumsschmerz”, wenn es um die aktuelle Integrationsdebatte geht, bei der Bildung und Quartiersmanagement eine besondere Rolle spielen. Gemessen an den vergangenen 50 Jahren kann man aber getrost von Identitätsproblemen sprechen.

Gewiss finden qualitativ hochwertige Debatten zu diesem Thema in Wochenzeitungen und im öffentlichen Rundfunk statt, manchmal noch in den Nischenprogrammen des öffentlichen Fernsehens. Doch leider gibt es kaum Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens oder Politiker, die jemals für ein bedeutendes Amt auf Bundesebene kandidiert hätten, die dies auch zu ihrem politischen Thema gemacht und eine große öffentliche Debatte angestoßen hätten. Diejenigen, die die Notwendigkeit eines flexibleren und offeneren sowie arbeitsmarktorientierten Einwanderungsregimes erkannt haben, agieren oft zu defensiv und sind geradezu hilflos, wenn es darum geht, dem politischen Druck der Wähler oder ihrer eigenen Parteimitglieder standzuhalten.

Eine neue öffentliche Debatte ist längst überfällig

Was bedeutet das für heute? Das Aufenthaltsgesetz von 2008 ist nach wie vor maßgebend. Demnach benötigen alle Qualifizierten – hier zählen Hochschulabschluss oder ein hohes Gehalt – in erster Linie ein konkretes Stellenangebot, um eine Arbeit in Deutschland aufnehmen zu können. Diese Politik hat sich fortgesetzt und wurde durch die nachfolgenden Regierungen unter Angela Merkel verfeinert, letztlich in Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten.

Im kommenden Jahr wird es endlich durch das Fachkräftezuwanderungsgesetz ersetzt, das aber bereits jetzt nicht mehr ausreicht, um unseren langfristigen Bedürfnissen gerecht zu werden. Der nächste Schritt muss ein transparentes Punktesystem sein, welches auf die Bedürfnisse der Zielgruppen und des Aufnahmelandes zugeschnitten ist. Kanada und Australien werden hier regelmäßig als Beispiele zitiert. Auf diese Weise kann eine Regierung die Auswahlkriterien auf Integrationsindikatoren wie Bildung, Sprachkenntnisse, Berufsmerkmale, benötigte Berufe und soziale Aktivitäten stützen.

Im Laufe der Jahre habe ich nur wenige deutsche Politiker gesehen, die sich in der Lage sahen, ihren Wählern die Vorteile der Migration, die Vorteile von Freizügigkeit und Mobilität für die Gesellschaft zu erklären. Es ist jedoch Aufgabe der Politik, in Anbetracht der langfristigen Bedürfnisse unserer Gesellschaft genau dies für Wähler transparent zu machen. Eine neue, groß angelegte öffentliche Debatte über Deutschland als Einwanderungsland ist längst überfällig.

Dieser Artikel stützt sich wesentlich auf den sehr lesenswerten Beitrag von Klaus F. Zimmermann, Lücken und Herausforderungen der migrationspolitischen Beratung. Die deutsche Erfahrung, Kapitel 8 in: Martin Ruhs, Kristof Tamas & Joakim Palme, Bridging the Gaps. Verknüpfung von Forschung mit öffentlichen Debatten und politischen Entscheidungen zu Migration und Integration. Oxford University Press 2019, S. 111-126.

Zurück zu magazin